Die weiße Weihnachtsrose

Wenn über Wege tiefbeschneit
der Schlitten lustig rennt,
im Spätjahr in der Dämmerzeit,
die Wochen im Advent,
wenn aus dem Schnee das junge Reh
sich Kräuter sucht und Moose,
blüht unverdorrt im Frost noch fort
die weiße Weihnachtsrose.

Kein Blümchen sonst auf weiter Flur;
in ihrem Dornenkleid
nur sie, die niedre Distel nur
trotz allem Winterleid;
das macht, sie will erwarten still,
bis sich die Sonne wendet,
damit sie weiß, daß Schnee und Eis
auch diesmal wieder endet.

Doch ist’s geschehn, nimmt fühlbar kaum
der Nächte Dunkel ab,
dann sinkt mit einem Hoffnungstraum
auch sie zurück ins Grab.
Nun schläft sie gern; sie hat von fern
des Frühlings Gruß vernommen,
und o wie bald wird glanzumwallt
er sie zu wecken kommen.


Hermann Lingg (1820-1905)

Gedanken zum Text

Nicht das Bunte, Stolze überdauert am längsten, sondern das Bescheidene, Hoffende, das am Ziel festhält. Wie fremd ist uns das Ausharren geworden?

Ein bittersüßes Weihnachtsgedicht - ein ungewöhnliches, das vom Tod erzählt. Dennoch ist es ein mutmachendes Bild: Das glaubende Ausharren wird belohnt, das Sterben ist nicht das letzte - die Auferstehung kommt!