Weihnachtsabend

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war's; durch alle Gassen scholl
der Kinder Jubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
drang mir ein heißes Stimmlein in das Ohr:
"Kauft, lieber Herr!" Ein mag'res Händchen hielt
feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
wes Alters und Geschlecht es mochte sein,
erkannt ich im Vorübergehen nicht.

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn Unterlass;
doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich? - War's Ungeschick, war es die Scham,
am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
erfasste mich die Angst im Herzen so,
als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

Theodor Storm (1817-1888)

Gedanken zum Text

Ist es Ihnen auch schon des öfteren so gegangen wie dem Dichter und auch mir? Ich sehe eine Not, könnte helfen und ehe ich es richtig merke, ist es zu spät - bin ich tatenlos vorbeigegangen.

Diese Gelegenheiten werden wohl nie wieder kommen; aber es werden wohl neue kommen. Da wünsche ich jedem, der das gleiche Versagen erlebt hat und mir selbst, dass wir dann richtig reagieren: mit Liebe und Weisheit reden und handeln.